Der zahme Vogel Der zahme Vogel, war in einem Käfig, der freie Vogel war im Walde. Als ihre Zeit gekommen war, trafen sie sich; so wollte es das Schicksel. Der freie Vogel ruft: "O Liebster, laß uns zum Walde fliegen:" Der Vogel im Käfig zwitschert: "Komm her, laß uns beisammen im Käfig leben." Sagt der freie Vogel: "Wo ist denn Platz hinter Stäben, seine Flügel zu spreiten?" Der freie Vogel ruft: "Mein Liebling, singe die Lieder der Wälder." Der Vogel im Käfig sagt: "Setz Die zu mir, ich will Dich unterweisen in der Sprache der Gelehrten." Der Waldvogel ruft: "Nein, ach nein" Lieder können niemals gelehrt werden." Der Vogel im Käfig sagt: "Weh mir, ich weiß sie nicht, die Lieder der Wälder." Ihre Liebe ist heiß, voll Verlangen; doch können sie nie Schwinge fliegen. Durch die Stäbe des Käfigs schauen sie und sehen sich vergebens, einander zu kennen. Sie flattern sehnsüchtig mit ihren Flügeln und singen: "Komm näher, mein Lieb!" Der freie Vogel ruft: "Es geht nicht, ich fürchte die verschlossenen Türen des Käfigs. Der Vogel im Käfig zwitschert: "Weh, meine Flügel sind kraftlos und tot." Rabindranath Tagore
Rabindranath Tagare ( 1861 – 1841), bengalischer Dichter, Philosoph, Musiker, Komponist, Dramatiker, Universalgelehrter, Anhänger der hinduistischen Reformbewegung Brahmo Sanaj
Gedicht aus: ‚Der Gärtner‘
Die einzige autorisierte deutsche Ausgabe. Nach der von Rabindranath Tagore selbst veranstalteten englischen Ausgabe. 1921. Übertragung vom englischen ins Deutsche: Hans Elfenberger / Jan Śliwiński (1884 – 1950)